DIE WICKELFRAU
Den Wegerich hat der liebe Gott an alle Wege gestreut, in alle Wiesen und Raine gesetzt,
damit wir ihn stets bei der Hand haben;
denn er ist unstreitig das erste, beste und häufigste aller Heilkräuter.
In unserem Klima gibt es etwa sieben Sorten, und alle sind heilsam.
Johann Künzle, aus Chrut und Uchrut
Der Spitzwegerich begleitet unauffällig jeden Wegrand. Sie ist immer in unmittelbarer Nähe und bietet unglaublich rasche und starke Hilfe bei akuten Verletzungen an.
Über ihr Name und ihr Wesen
"Wegerich" kommt aus dem althochdeutschen (wegarih) und bedeutet Weg und König (rih). Man kann der Name auch mit Wegbeherrscher übersetzen, was völlig zutrifft. Doch ist sie nicht nur ausschliesslich an Wegrändern zu finden (für mich ist der Spitzwegerich weiblicher Natur, deswegen schreibe ich von "ihr"), sie sucht anscheinend sehr die Nähe des Menschen, so dass sie jeder schnell auffinden kann.
Ausgrabungen mit Pollenanalysen belegen, dass bei frühzeitlichen Siedlungen unserer Breitengraden der Spitzwegerich immer anwesend war. Er sucht förmlich die Nähe des Menschen. Böse Zungen können
nun behaupten, dass dies anhand der klebrigen Samen geschieht, welche an Schuhwerk und ähnlichem haften bleiben und somit den Wegen entlang bis in die Siedlungen getragen werden. Genau. Die
Wegkönigin wird immer dort anzutreffen sein, wo sich Menschen und Tiere bewegen. Stets griffbereit.
Der Wegerich wird bereits vor über 2000 Jahren ausführlich beschrieben und lobgepreist1). Das Vertrauen der Menschen zu ihm war seit jeher mit einem sehr soliden Band geknüpft. Bis heute hat er in der Medizin seinen festen Platz beibehalten.
Die Germanen nannten ihn Läke-Blad, was soviel wie Heilblatt bedeutet.
In der lateinischen Namensgebung bedeutet "planta" etwas wie Fusssohle. Lanceolata beschreibt die lanzenförmige Blattform. In einigen Quellen wird beschrieben, dass sich "planta" ebenfalls auf die Formgebung der Blätter bezieht oder Wegericharten ähnlich einer Fussohle am Boden fest verwurzelt sind. Der Spitzwegerich ist für seine Verbreitung2) allerdings auch auf "Fusssohlen" angewiesen: Seine Samen bleiben daran kleben und ermöglicht der Pflanze, sich über weite Distanzen zu verbreiten. Ich kenne kein besseres Heilmittel gegen frisch aufkommende Blasen als der Spitzwegerich. Eine zufällige Symbiose? Wie sie auf "Fremdwanderung" angewiesen ist um weite Distanzen zurückzulegen, zeigt sie an ihrem Standort eine aussergewöhnliche Festigkeit: Ihre Wurzeln dringen mehr als doppelt so tief in den Boden (bis 60-70 cm), als Ihre Blüten hoch sind.
Weitere Namen: Heilwegerich, Wegbreit, Wegtritt, Wundwegerich, Sündenblatt, Wegwartenkraut, Schafzunge, Lammzunge (nach Dioskurides)
Mythos
Seit Menschengedenken wird der Wegerich genutzt. Ihr Pflanzengeist stellt eine Brücke zwischen der oberen und unteren Welt dar. Als Wegbegleiter für das Neugeborene hielten gebärende Frauen eine Wegerichwurzel in der linken Hand. Auch sie haben sich damit in diesem für sie gefahrvollen Moment der Schöpfung geschützt.
Im Neunkräutersegen ist der Spitzwegerich an zweiter Stelle, unmittelbar nach dem Beifuss, eingereiht.
Sie soll ebenso für Liebeszauber eingesetzt worden sein wie zur Abwehr von unerwünschter Liebe.
Wohl im Wissen, dass der Spitzwegerich blutreinigend und Leberentgiftend wirkt, glaubte man immun gegen Gifte zu werden, wenn man täglich Spitzwegerich kaut. Im Mai war zudem eine
Blutreinigungskur mit Spitzwegerich Brauch: Jeden Tag wurde bis Mitte Monat ein Blatt mehr gegessen, anschliessend wurde die Menge bis Ende Mai um jeweils wieder ein Blatt gemindert.
Spitzwegerich in der Küche
Der Spitzwegerich kann wie Salat zubereitet werden. Dieses "Gemüse" hat nach Kriegszeiten der ärmeren Bevölkerung manchen Dienst getan. Auch einfache Zuckergebäcke mit Spitzwegerich waren bekannt.
Wegerich-Arten und ihre Medizin
Es gibt verschiedene Wegeriche. Bei uns sind vor allem der Spitz-, der Breitwegerich und der mittlere Wegerich bekannt. Einige Kräuterkundler geben der einen Art, andere der anderen Art ihren Vorzug. Sicher ist, dass alle Arten Heilwirkungen aufweisen. Kräuterpfarrer Künzle schreibt, dass der alpine Wegerich der Beste sei, die anderen Arten aber "nicht viel nachstehen".
Fussnoten:
1) unter anderen auch von Plinius (Naturalis historia, 1. Jh.) und Dioskurides (De Medica Materia, 1. Jh.)
2) der Spitzwegerich verbreitet sich nicht nur durch "Fussohlen" oder Tiere. Auch mit Ausläufer bewegt sich die Pflanze fort.
3) wie ich später erfahren habe, spielen Flusskiesel bei den Ureinwohner Amerikas eine entscheidende Rolle